Bevor jetzt irgendjemand lächelt – wenn man ein Mal bei Wikipedia gelesen hat,d ass die eigene Lebenserwartung mit der Diagnose ca. 60 Jahre beträgt, dann darf man auch etwas Panik schieben, wenn die “Halbzeit” erreicht wurde, oder? 😉
Ja es ist passiert, am 23.12..2016 wurde ich 30. Dreißig, ja furchtbare drei mal zehn oder 29B. Fakt ist, dass ich an diesem letzten Geburtstag bereits 360 Monate, oder 1565 Wochen gelebt habe, also 10.958 Tage – was 262.992 Stunden oder 15.779.520 Minuten oder eben 946.771.200 Sekunden entspricht.
Keiner hat mich gefragt, ob ich überhaupt auf die Welt kommen will und auf mein Ableben habe ich auch keinen Einfluss. Da wir ja im postfaktischen Zeitalter leben kann ich auch einfach mal behaupten:”Gefühlt habe ich meine Halbwertszeit erreicht”.
Normalerweise würde ich jetzt die Sache mit “not nice” kommentieren, dabei verstelle ich meine Stimmte und parodiere eine Parodie eines Youtubers, aber geht so was überhaupt wenn man dreißig ist? Müsste ich nicht sowas wie “unschöne Situation” sagen? Bin ich jetzt unwiderruflich erwachsen und muss alle Jugendmarotten abgelegt haben?
Dieser Beitrag widmet sich dem Älter- und Erwachsenwerden. Von der Jahreszahl mal unabhängig durchlebt wohl jeder die große Phase des ersten Resümees – die erste große Denk- und Fühlkrise‚ voller Reflektion und Selbstzweifel (also nach gut bekannten Pupertät). Und sind wir mal ehrlich: der erste Lack ist zu diesem Zeitpunkt doch wirklich auch schon ab.
Dann kommt mal mit auf einen Trip durch meine kleine, ganz persönliche “Midlife crisis”. Was am Ende dabei rauskommt? Keine Ahnung!
Ich steh ja schließlich noch ganz am Anfang meiner Reise…
Viel Spaß beim lesen.
Eine Bestandsaufnahme
Ich bin jetzt 30, lebe mit meinem Mann und meiner Mutter zusammen in einer 4,5-Zimmer Wohnung mit Küche, Bad, Gäste-WC und Abstellkammer. Wir wohnen zur Miete, was in Münster ziemlich teuer ist. Mit uns leben 5 Katzen (Dori, Zokora, Milo , Hexe und Hinata) sowie 3 japanische Mövchen und 4 Zebrafinken.
Ich hab genug zu essen und an Kleidung fehlt es mir auch nicht. Ab und an mal gönnen wir uns etwas Luxus – gerade wenn es ums Zocken geht. Ich bin selbstständig und übernehme zusätzlich die Pflege und Betreuung meiner Mutter.
Der eben erwähnte Mann ist öfter außer Haus, weshalb ich viele Aufgaben im Haushalt übernehme. Ich sage immer: Ich habe 50% Selbstständigkeit, 25% Angehörigen-Pflege und 25% Haushalt.
Ja, aber was ist mit der Zeit mit meinem Ehemann oder Freunden? Wo kann ich mich noch persönlich entfalten? Wie viel Raum nimmt dann meine Erkrankung noch ein? Ganz ehrlich – es gibt Dinge über die mache ich mir keinen Kopf mehr. Man muss ja eh ständig abwägen und Prioritäten setzten. Man kann nicht allem und jedem gerecht werden – meist nicht mal sich selbst.
Nun sitze ich also hier im Home Office und sinniere über das was war und das was noch kommt. Ich habe einen manchmal verdammt stressigen Job, der mir mega viel Spaß macht. Ich habe den tollsten Mann der Welt an meiner Seite und ich hab die Chance meine Mutter durch ihr Rentenalter zu begleiten. Klingt doch eigentlich ganz gut, oder?
Wenn das Wörtchen Wenn nicht wär
Wenn, ja, wenn ich nur nicht chronisch krank wäre. Wenn Mama nur nicht blind wäre. Wenn nicht alle glauben würden, selbständig zu sein bedeutet auch ausgesorgt zu haben. Wenn mir nicht immer irgendwelche Menschen das Leben schwer machen wollen würden. Ach das wär doch dann bestimmt alles viel besser als jetzt.
Wenn mich der Immundefekt nicht immer ausbremsen würde, wenn man mich nur viel früher diagnostiziert hätte, wenn ich eine heile Familie gehabt hätte, ach was wär es mir wohl gut gegangen.
Eine heile Kindheit hatte ich nicht, gesund war ich noch nie und generell ging früher alles schief was schief gehen konnte: Ich hatte beschissene Voraussetzung. Ich habe mir mein Leben ganz anders vorgestellt als es jetzt verläuft, aber es ist immer noch mein Leben und ich versuche jeden Tag aufs Neue das Beste aus allem zu machen. Das gelingt mir mal mehr, mal weniger gut und doch ist es ja allein schon das immer wieder Aufstehen und Weitermachen – also der Versuch an sich – die wichtige Sache.
Man muss nicht immer alles schaffen. Solange man es trotzdem probiert bleibt man am Leben. Ja, es ist wohl einfach so, dass man keine verlorene Zeit zurück bekommt und man die verbliebene nicht damit verschwenden soll, dem Vergangenen nachzutrauen – es bringt einfach nichts!
Wer schwarz sieht ist blind. Wer beim Versuch die Vergangenheit zu ändern, zwangsläufig immer wieder scheitert, hat auch keine Motivation mehr die eigene Zukunft zu gestalten.
Anders muss nicht immer schlechter bedeuten und letzten Endes weiß doch jeder: Erstens kommt es anders und zweitens als man denkt
Die Sache mit der Gesundheit
Ja, und schon werd ich depressiv – also, okay, nur Phasenweise, aber das Thema ist echt kein schönes für mich. Ich bin dreißig (an dieser Stelle müsst ihr euch ein tiefes Säufzen von mir vorstellen), ja, und ich werde vor allem nicht jünger.
Ich habe ja jetzt schon Rheuma und Rücken. Es kommt irgendwie auch immer etwas dazu. In ein paar Jahren ist mein Wirbelkanal so eng, dass ich ihn mir auffräsen lassen muss um nicht im Rollstuhl zu landen. Die Magen-Op kann ich auch nicht mehr ewig vor mir herschieben und der ein oder andere Lymphknotenklumpen wird mich in den nächsten Jahren wohl auch verlassen.
Ich könnte jetzt eine endlose Auflistung machen, aber es würde sich nichts dardurch ändern, so dass ich es einfach akzeptieren muss. Gar nicht so leicht, wenn man auch Geld verdienen muss oder für jemanden die Verantwortung trägt.
Ja, da bin ich auch schon schweißgebadet aufgewacht und dachte, ich verliere den Boden unter den Füßen. Natürlich mache ich mir Sorgen und habe Zukunftsängste. Meiner Meinung nach ist es ganz normal solche Gedanken zu haben, wenn man durch eine oder mehrere Erkrankungen so eingeschränkt ist.
Wir leben in einer Leistungsgesellschaft und gerade chronisch Kranke haben oft die Panik nicht mithalten zu können. Man muss einfach versuchen die Erkrankung oder das Kranksein ins Leben zu integrieren. Es gehört dazu und geht nicht mehr weg, wird mal schlimmer, mal besser, aber bleibt ein ewiger Begleiter. Warum also nicht akzeptieren und die Sache annehmen.? So wie ein Schönheitsmakel mit dem man sich abgefunden hat.
Nicht toll, man kann aber damit Leben – und genau das meine ich. Da kann ich noch so krank sein oder werden, so lange ich krank bin, so lange bin ich auch am leben. Wir dürfen einfach nicht vergessen:
Ich könnte auch am nächsten Tag über die Straße gehen und von einem Auto überfahren werden.
Dann ist er da der Moment
Seit längerem denke ich nun schon vermehrt über mein Leben nach. Das viele Kranksein in letzter Zeit hat mich viel Kraft gekostet. Mehr und mehr habe ich begonnen den Sinn hinter alldem zu hinterfragen.
Ich denke nach über das was war und möchte mit so einigen Dingen Frieden schließen. Mir werden meine eigenen Fehler und Defizite sehr bewusst. Plötzlich habe ich Angst Menschen zu verlieren, die mir wichtig sind.
Ich habe Alpträume in denen mein Mann und meine Mutter sterben. Wochenlang wiederholen sich diese nächtlichen Horrorfilme. Ich fange an Menschen zu vermissen die mir egal sein sollten und ich spüre jede kleine körperliche Fehlfunktion um so vieles stärker als sonst schon.
Ich denke, ich grüble, ich verzweifle – ich muss weinen. Oft laufen mir einfach still die Tränen die Wangen herunter. Leere Blicke durchqueren den Raum und mein Mann fragt was denn los ist. Ja, was ist denn los? Es ist ganz einfach – ich bin am Trauern.
In den vergangenen Wochen und Monaten – vielleicht sogar schon im gesamten letzten Jahr – habe ich einen sehr schweren und anstrengenden Prozess durchlebt. Kurz habe ich da schon mit meinem Schatz drüber geredet, über diesen einen Moment der sich so unglaublich in die Länge zu ziehen scheint.
Ich glaube, ich bin erwachsen geworden und ich bin manchmal so unglaublich tief traurig, weil diese Tatsache so viele Verluste mit sich gebracht hat.
Machs gut du geliebte kindliche Naivität, die mich hat Träumen und Hoffen lassen. Tschüss, ach du Glaube an das Gute in jedem Menschen. Ade, liebe Chance auf ein heiles Familienleben. Gesundheit, ach du mir meine so geliebte Gesundheit, was werde ich dich doch vermissen.
Was ich gelernt habe
Menschen die vom Leben so richtig derbe g.…..t sind ,haben oft das größte Herz und sehr viel Einfühlungsvermögen. Diese Menschen welche oft selbst am Rande des Ertragbaren stehen sind dann auch noch hilfsbereit und immer für andere da.
Nicht jeder der glaubt Gutes zu tun, tut auch wirklich Gutes. Einhörner gibt es nicht, genau so wenig wie Wunderlampen und Töpfe voll Gold am Ende des Regenbogens. Ängste sind eine natürliche Schutzfunktion. Traurigkeit liegt immer einem Verlust zu Grunde. Freundschaft definiert sich nicht durch persönliches Kennen oder regelmäßige Treffen. Allein schafft man nicht viel. Karma gibt es wirklich. Wenn man sich auf eins verlassen kann, dann dass es nie so läuft wie man es sich vorstellt. Irgendwas ist immer. Die wahre Liebe gibt es wirklich. Man kann sich erneut und immer wieder in den gleichen Menschen verlieben.
Man darf einen Menschen gleichzeitig lieben und hassen. Menschen können nicht gut mit der Wahrheit umgehen. Die meisten Menschen denken zu viel über Andere nach und zu wenig über sich selbst. Man kann andere Menschen nicht ändern. Menschen mit Defiziten haben oft Talente. Und manche Tiere können uns doch verstehen.
Es gibt so Vieles was mir bewusst geworden ist. Diese unsere Welt mit ihren Menschen ist schon ein komischer Ort.
Jetzt bin ich 30
Ich habe einen Mann der mich liebt. Ich habe meine Mutter immer nahe bei mir. Ich habe immer genug von dem, was man zum Leben braucht. Ich habe meine ganzen Tiere, die mir so unglaublich gut tun. Ich habe Wege gefunden mit allen Widrigkeiten klar zukommen. In meinem Leben gibt es Menschen, die mir so unvorstellbar wichtig sind.
Ich mag meine Arbeit total gerne. Ich habe immer die Möglichkeit auf eine heiße Tasse Kaffee. Ich hab so viel und auch wenn es nicht immer so einfach ist – und bestimmt auch nicht einfacher wird – so bleibt mir und jedem anderen nichts anderes zu tun als wirklich aus jedem Tag einen besonderen zu machen.Wenn es auch nur Kleinigkeiten sind.
Ich bin jetzt 30 und habe mir die Haare Grau gefärbt – warum?
Naja, so bin ich, so war ich und so werde ich immer bleiben.
Denn eines weiß ich ganz genau:
Manche Dinge ändern sich nie!
Euer Stephan