Wen kümmerts?
Liebe Leserinnen und Leser,
ich bin wütend, und zwar so richtig. Was liegt da näher, als darüber zu schreiben.
Als pflegender Angehöriger hat man es wirklich nicht immer leicht. Mal ganz von der aufgebrachten Zeit, dem Aufwand und dem körperlichen wie emotionalen Stress abgesehen, kann sich kaum ein Mensch vorstellen, dass eben nicht immer alles “so einfach” zu regeln ist wenn man sich um jemanden kümmert. Ein aktueller Anlass hat das Fass bei mir jetzt überlaufen lassen und deshalb befasst sich dieser Beitrag mit dem Thema Pflege. Dabei geht es weniger um die medizinischen Schwierigkeiten, sondern mehr um das Drumherum – also den Alltag und das Privatleben. Ich möchte einfach ein Verständnis für die Situation von pflegenden Angehörigen schaffen und dabei nehme ich mich gerne als Beispiel.
Was bisher geschah …
Fleißige Blog-Leserinnen- und Leser wissen, dass meine Mutter blind ist und mittlerweile seit vier Jahren bei mir und meinem Mann wohnt. Vielleicht erinnern sich auch noch einige an den schweren Unfall den Mama hatte, welcher sie letztendlich erblinden lies. Blind geworden wäre sie ohnehin aufgrund der seltenen Augenerkrankung, die viel zu spät entdeckt wurde. Jetzt ist Mama 64 Jahre alt und in der Zeit in der sie bei uns lebt hat sich vieles bei ihr verändert.
Stell dir mal folgendes vor..
Du hattest eine schlechte Kindheit und ganz furchtbare Familienverhältnisse, schlechte Ehen, hast Traumata und schlechte Erlebnisse wie Gewalt immer verdrängt indem du gearbeitet hast, du warst alleinerziehende Mutter eines dauer-kranken Kindes und bist trotzdem arbeiten gegangen. Dein Leben bestand daraus, für andere da zu sein – und aus Arbeit.
Arbeit war für dich auch Freundschaft und soziale Kontakte… doch dann wirst du sehr schnell auf einem Augen blind, bekommst hohen Blutdruck und einen Herzinfarkt, einen Schlaganfall. Du bist die Treppe gestürzt und hast die vier Wirbel gebrochen, hast einfach weiter gearbeitet. Du hast dir den Fuß gebrochen und hast immer weiter gearbeitet. Dann verliert auch dein anderes Auge nach und nach die Sehkraft – mit Vergrößerungsbildschirm und Lupe arbeitest du immer noch. In dieser Zeit warst du immer für alle da. Finanziell und auch sonst hast du deine Tochter unterstützt die nach 14 Jahren (mitten in der Pubertät) und vom Vater verhunzt zu dir kam und all deine Aufmerksamkeit forderte.
Dann wurde es immer dunkler und du wurdest sehr schwer krank. Du bist nun 60 Jahre alt, krank und fast blind. Lohnfortzahlung durch die Krankenkasse und keine Perspektive. Du wirst depressiv, denn du hast alles verloren was in deinem Leben eine Rolle gespielt hat, was deinen Alltag ausgemacht hat. Du kannst nicht mehr arbeiten, lebst alleine und siehst nicht wie das Essen abläuft, weil du das Verfallsdatum nicht mehr lesen kannst. Du verlierst deine ganze Selbstständigkeit und fällst in ein richtig tiefes Loch. Du hast dich aufgegeben.
Du nimmst in einem Jahr 40 Kilo zu, bewegst dich nicht mehr und vernachlässigst dich selbst total. Die Immunsuppressiva und das Cortison haben deinen Diabetes schlimm werden lassen und du benötigst Insulin. Dein ganzer Körper ist voller offener Wunden und eigentlich hast du dich selbst aufgegeben. Dann wirst du krank, sehr schwer krank und brichst auf der Toilette deiner Nachbarin zusammen. Du kommst auf die Intensivstation und kämpfst um dein Leben. Was jetzt? So kann es nicht weiter gehen?
Unter großen Schwierigkeiten ziehen dein Sohn und dein Schwiegersohn in eine größere Wohnung um dich bei ihnen aufzunehmen. Auch wenn es die beste Lösung ist, du wirst total entwurzelt und alle Kontakte brechen ab. Du bist einsam und hilflos, leidest unter der Abhängigkeit von deinem Sohn. Du grübelst und denkst über die negativen Dinge aus deinem Leben nach, die du sonst immer so erfolgreich verdrängt hast. Dein Sohn hat alles geregelt: Schwerbehinderung, Pflegegrad, Rente und Blindengeld – doch du weisst nicht, was du mit deinem Leben noch anfangen sollst. Du bist körperlich und psychisch am Ende…
Baustellen abarbeiten
Ja, so war es und es war wirklich keine schöne Zeit. Ich hab vieles in die Wege geleitet und wenn der Unfall nicht dazwischen gekommen wäre, dann könnten wir schon viel weiter sein.
Zuerst hatten wir Mamas Ernährung umgestellt, weshalb sie Gewicht verlor und nun kein Insulin mehr benötigt. Ihr Blutdruck hat sich stabilisiert und nach etwa gut einem Jahr hatten wir auch die ganze Hautproblematik unter Kontrolle. Jetzt war sie also körperlich erstmal wieder hergestellt.
Allerdings war jetzt wirklich die Psyche zu einem ernsthaften Problem geworden, so dass mir nichts anderes übrig blieb als sie in die Gerontopsychiatrie einweisen zu lassen. Da kam dann auch so einiges zum Vorschein. PTBS, Anpassungsstörung, Angststörung, schwere Depressionen usw…
Auch da haben wir alles mögliche getan um Mamas Situation zu verbessern. Es folgten noch zwei Aufenthalte in der Tagesklinik und auch heute hat sie noch regelmäßige Gespräche mit ihrem Therapeuten. Zwischendurch war ja noch der besagte Unfall, der fünf Operationen und über 40 ambulante Termine zur Folge hatte. Als die ganze Sache dann vorbei war und ihr Auge stabiler wurde, machte sich dann ein ganz anderes Problem bemerkbar: Mama bekam mehr und mehr Schmerzen im Rücken und in den Beinen. Wir dachten, es lag an dem vielen Liegen nach den Operationen, aber nein, Mamas Wirbelsäule ist auf vielerlei Hinsicht krank.
Mamas hat vier gebrochene Wirbel BWK 12, LWK 1,3 u.4. Bei LWK 4/5 und LWK5/SWK1 liegt jeweils ein Bandscheibenvorfall vor. Im Bereich LWK 4/5 ist eine sehr ausgeprägte Spinalkanalstenose. Dehydrierung und Abflachung sämtlicher Bandscheibenräume (alle Bandscheiben sind abgenutzt). Aktivierte Osteochondrose vom Typ Modic 2 (aufgrund der dauerhaften Belastung, wandelt sich das Gewebe und die Wirbel selbst um) Zuerst lagern die Wirbel Wasser ein, dann wandelt sich Gewebe in Fett um wie bei meiner Mama und am Ende verknöchert dieses Gewebe bei weiterer Belastung). Aktiviertes Baastrup-Phänomen (die Dornfortsätze berühren sich und sorgen für Schmerzen durch die Reibung). Hyperthrophe Spondylarthrose (degenerative Erkrankung der kleinen Wirbelgelenke). Pseudolisthesis (Wirbelgleiten). Mittlerweile bekommt sie Morphine gegen die Schmerzen und ein Medikament gegen Parkinson, um die unruhigen Beine in Griff zu halten.
Die nächste Baustelle heißt also Rücken Operation: Der Wirbelkanal muss freigefräst werden und die Wirbelsäule wird versteift. Es geht hier nicht nur um Schmerzlinderung sondern darum Mama vor dem Rollstuhl zu bewahren. Ich mag solche Diagnoseaufzählungen eigentlich nicht, aber nur so wird klar warum ich überhaupt so wütend bin.
Dieser dämliche Blindenstock
Mama war am Freitag mit meiner Schwester unterwegs und musste sich der Frage stellen, warum sie denn immer noch keinen Blindenstock hat. An sich ja eine plausible Frage und doch löst sie bei Mama und mir nur noch Aggressionen aus – erst recht, wenn sie von Leuten gestellt wird, die es besser wissen müssten. Auch Taxifahrer und andere »Klugscheißer« kommen immer wieder mit dieser Frage auf uns zu. Leider muss ich dann immer antworten, dass meine Mutter nie selbstständig am Blindenstock laufen wird: Als Späterblindete ist der Zug abgefahren dafür und Mama ist so immobil, dass sie nicht mal auf der Stelle stehen kann. Hinzu kommen noch die extremen Vertrauensängste. Wer zuvor im Text aufmerksam gelesen hat, kann sich ungefähr vorstellen wie Mama sich fühlen muss.
Ich verstehe auch das Problem nicht. Ich empfinde es nicht als Belastung meine Mutter im Arm zu haben oder sie am Rollator zu führen. Sie trägt immer eine Sonnenbrille und hat einen Blindenbutten an, außerdem hat jeder einen Mund zum reden bzw. um auf sich aufmerksam zu machen. »Vorsicht«, »Achtung« oder “wir müssen da mal durch”, zu sagen ist doch absolut kein Problem.
Es ist schon komisch, dass jeder besser bescheid weiß als wir, obwohl sich außer mir keiner um Mama kümmert. Ich glaub, ich besorge einen Blindenstock und die nächste Person die Mama oder mich darauf anspricht, bekommt den ganz tief in den A… Aktenkoffer gesteckt.
Verzicht und Orgawahn
Die Angehörigenpflege ist ein Kraftakt. Sie ruiniert deine Zukunftspläne, bringt dich in finanzielle Probleme, kann deine Ehe negativ beeinflussen und bringt immer dann alles durcheinander, wenn es eigentlich gerade läuft. Man macht sich immer Sorgen, hat ständig Angst, muss Entscheidungen treffen die man nicht treffen will und wenn etwas nicht läuft muss man immer auch selbst die Konsequenzen ziehen oder tragen. Urlaub oder selbst mal eine Reha ist nur unter extrem organisatorischem Aufwand möglich, wenn überhaupt.
Oft vergleichen Menschen die Pflege eines Angehörigen mit dem Großziehen eines Kindes und ich glaube, da wird ein dramatischer Denkfehler gemacht. Gesunde Kinder werden Jahr für Jahr selbstständiger und benötigen immer weniger Hilfe je älter sie werden. Sogar chronisch kranke Kinder, sofern nicht gänzlich Pflegebedürftig und Mehrfachbehindert, werden mit der Zeit selbstständig und kümmern sich später (im wünschenswerten Fall) selbst um die eigene Erkrankung. Wenn man ein Kind groß zieht, dann arbeitet man auf den Start in ein eigenes Leben für das Kind hin. Wenn man einen Angehörigen pflegt, dann geht es darum sich zu kümmern bis das Lebensende der zu pflegenden Person kommt.
Einen erwachsenen Menschen erziehst du nicht, den bevormundest du nicht und den übergehst du nicht einfach bei Entscheidungen. Ein erwachsener Mensch hat ganz andere Bedürfnisse und Eigenschaften als ein Kind. Dinge wie die Schamgrenze spielen als Kind keine wirkliche Rolle. Ich mache meiner Mutter das Essen, bade sie, wasche ihr die Haare, kaufe für sie Kleidung, putze für sie und kümmer mich um alles medizinische sowie Amtsgänge. Doch Pflege ist soviel mehr als nur Pillen stellen und Körperpflege.
Pflege ist auch…
Das Mama hier mittlerweile Kontakte geknüpft hat. Das Mama zweimal die Woche zur Ergotherapie geht – einmal einzel und einmal in der Gruppe; Mama wird von einem Fahrdienst hin und zurück gebracht. Pflege ist auch, dass Mama jetzt zweimal in der Woche Besuch von einer Freizeitbegleitung bekommt. Auch, dass Mama jetzt unterschiedliche Interessen und Hobbys entwickelt hat, ist Pflege. Das wir ihr versuchen alles zu ermöglichen ist Pflege und jede einzelne Träne die ich aus Sorgen vergossen habe ist Pflege.
Es ist nicht immer einfach und doch bin ich auch froh die Chance zu haben mich um meine Mama kümmern zu können. Früher war es normal sich um seine Angehörigen zu kümmern und deshalb sehe ich es als selbstverständlich an. Ich liebe meine Mama.
Liebe Leserinnen und Leser, ich hoffe ihr versteht diesen Beitrag. Es soll ein Aufruf sein an eben alle zu denken, die ihre liebsten zu Hause pflegen und umsorgen. Es ist nicht immer alles so einfach wie es scheint, denn jeder Mensch, jede Familie und jede Situation ist individuell. Deshalb bitte ich jeden zu verstehen, dass man nicht immer alles so geregelt bekommt wie es andere als aussenstehende gerne hätten oder sich vorstellen.
Euer Stephan