Liebe Community, liebe Patienten und Angehörige,
In den vielen Jahren in denen ich mich nun schon um Menschen kümmere, ist mir ein Problem besonders häufig aufgefallen. Chronisch Kranke und deren Angehörige haben fast alle schon Erfahrungen mit Depressionen, Ängsten und anderen seelischen Problemen. Es liegt wohl am unfreiwilligen »Mehr« von allem.
Mehr Schmerz, mehr Sorgen, mehr Komplikationen. Es liegt bestimmt auch am unfreiwilligen »Weniger« von allem. Weniger Sicherheit, weniger Gesundheit, weniger Kraft.… Die Gründe für eine depressive Erkrankung sind vielfältig und doch ist es für mich kein Wunder, dass gerade chronisch Erkrankte oft depressiv werden.
Ich, ich hatte schon immer Depressionen und mit den folgenden Worten möchte ich euch zeigen was Depression für mich bedeutet, welche Fehler ich gemacht habe und wie ihr es besser machen könnt.
Dunkle Ranken und Tentakel
Egal was ich gerade mache und wo ich gerade bin; wenn sie mich holen will, dann holt sie mich. Sie zwingt mich Gefühle zu fühlen, die ich kaum ertrage. Sie nötigt mich, Gedanken zu denken, dich mich durchdrehen lassen. Sie vergeht sich an den Ur-Instinkten, macht an unlogischer Stelle Angst. Sie ist gemein, raubt mir den Schlaf und macht mich so unendlich müde, müde von allem. Sie zwingt mich zu denken und zu fühlen bis ich nicht mehr einen klaren Gedanken fassen kann und auch kein Gefühl mehr zu verspüren vermag. Tage, Wochen, Monate, Jahre – sie ist immer da, greift nach mir mit ihren schwarzen Tentakeln und hat sich unlängst wieder festgesaugt bevor ich es bemerken kann.
Leise flüsternd säht sie Keime der Zwietracht und Misstrauen in meinen Verstand, in mein Herz. Schwarze dunkle Blumen saugen mir die Lebenskraft aus den Adern, während sich das düstere Wurzelgeflecht immer tiefer durch das eigene Seelenheil bort.
Früher hatte ich Lösungen und Auswege – keine guten, gewiss nicht – sie waren schlecht und doch sicherten sie mir mein Überleben. Irgendwann, so kam es in meinem Leben, wollte ich diese Lösungen von früher nicht mehr, brauchte sie nicht mehr. Heute, viele, viele Schicksalsschläge später, älter und reifer, abgehärtet und überlebenserprobt, verzweifle ich an guten, wirklich vernünftigen Lösungen.
Stell dir vor, all der Müll den du erlebst, sammelt sich wie Wasser in einer Regentonne. Tropfen für Tropfen… und irgendwann kann dieses Fass überlaufen. Hat man keine passenden Ventile zum gesteuerten Ablassen wird es irgendwann gefährlich.
Von morschen Fässern
Was hab ich also gemacht? Ich hab am Anfang neben mein sehr früh voll gewordenes Fass einfach weitere kleine Auffangbehälter aufgestellt. Die meisten hatten Löcher oder waren anders unbrauchbar, aber was hätte ich tun sollen? Mit der Zeit habe ich gelernt wie man die Wand eines Fasses verstärkt und wie man ab und an ‘ne Kelle oben abschöpfen kann – doch auch das waren nur Übergangslösungen.
So habe ich weiter gezimmert und gehämmert und neue Fässer erbaut. Kindheit, Schulzeit, junger Erwachsener, Erwachsener… all die Verluste und Traumata bekamen ihre Fässer. Irgendwann habe ich gemerkt, dass ich am besten darin bin Fässer für andere zu bauen und einzulagern. Das hat den schwarzen Dornenkraken auch immer gut besänftigt (so dachte ich) und baute gewollt wie ungewollt neue Fässer, viele, viele Fässer und hab meine eigenen vergessen.
Nun war ich jung, zu jung für einen Mensch der so viele Fässer baut. Ich habe fehlerhaft gearbeitet und durch die vielen tollen guten Fässer der anderen, merkte ich einfach nicht wie meine langsam morsch wurden, Risse bekamen oder nen Wurm hatten. Zwei mal ist ein Fass explosionsartig geborsten, hat alle anderen wackeln und wanken lassen.
Heute baue ich keine Fässer mehr. Ich habe irgendwann noch ein paar Komposthaufen für meine Gesundheit angefertigt, doch Fässer baue ich nicht mehr. Ich bin total auf Logistik und Verwaltung umgestiegen; immer noch sehr nah dran an der Materie, aber aus unmittelbarer Gefahr.
Doch mittlerweile bin ich an einem Punkt, da sollte ich mir ein freies Jahr gönnen, nichts tun oder nur noch das tun wonach mir ist. Dann, ja wenn ich mich dann ein wenig erholt habe und ein bisschen positiver in die Welt blicken kann, ja dann werde ich auch wieder Zeit finden für meine alten kaputten und überholungsbedürftigen Fässer. Quasi “back to the roots”, zurück zu den Anfängen. Ich hab sie ja auch lieb gewonnen meine Fässer, auch wenn sie faulig sind und stinken, sie haben ihren ganz eigenen Charme… und doch muss ich mich irgendwann von ihnen trennen. Das muss ich, das will ich und das wird dann auch genau richtig sein.
Keine Scham!
Depressionen sind keine Schande! Es ist eine Qual die oft niemand mitbekommt. Wir entwickeln Strategien um mit all dem oben beschriebenen irgendwie zurecht zu kommen. Diese Strategien schaden uns oft noch mehr, aber Hauptsache wir verletzen euch nicht. Wir verzweifeln selbst daran, dass wir sind wie wir sind und weisen Menschen manchmal von uns, weil wir sie im tiefsten inneren vor unserer dunklen Gedankenwelt schützen wollen… oder einfach nicht glauben können, dass man uns so wie wir sind wirklich mag, vielleicht sogar liebt.
Eine Depression hat viele Gesichter, angeboren oder durch Traumata ausgelöst.Ja, auch organische Ursachen können eine Depression auslösen. Gar nicht so selten bleibt sie ein Leben lang bestehen – mal stärker mal schwächer, aber immer da wie ein leises Hintergrundrauschen, selbst wenn du glaubst es ist alles gut. Gerade chronisch Kranke sind besonders anfällig für depressive Erkrankungen. Schmerzen, Verzicht, Erschöpfung, Nebenwirkungen und Ängste: es gibt unzählige Gründe, die einen chronisch kranken Menschen auf Dauer zermürben können. Auch Menschen die sich um einen chronisch kranken kümmern sind genauso gefährdet seelisch durch die Pflege und Betreuung zu erkranken oder zumindest belastet zu werden, denn wer sich immer Sorgen macht wird krank. Bei Patienten mit seltenen Erkrankungen kommen dann noch weitere Probleme dazu: Man findet keinen Behandler, wird nicht ernst genommen, ist immer ein Sonderfall und generell ist alles einfach immer kompliziert und problembehaftet.
Fangt an darüber zu reden! Es gehört mit dazu und nur wenn die Gesellschaft erfährt wie es Menschen mit Depressionen wirklich geht, kann sich ein neues Bewusstsein für ein besseres Miteinander entwickeln. Reden tut gut, es entlastet und schnell merkt man, dass man weder bekloppt noch peinlich ist. Wer Verständnis will muss sich öffnen. Wer immer alles mit sich selbst ausmacht wird daran zugrunde gehen. Ich weiß wovon ich rede.
Euer Stephan