Austausch in selbstorganisierten Online-Selbsthiflegruppen
Was ihr wissen solltet und ganz persönliche Erfahrungen
Liebe Leserinnen und Leser,
in unserer Alltagsmacher-Community sind viele Menschen die an einer seltenen und/oder chronischen Erkrankung leiden (oder deren Angehörige und Freunde). Wie wichtig der Austausch unter Menschen mit gleichen oder ähnlichen Problemen ist, welche Vorteile oder Nachteile dieser hat und warum manch einer sich nicht traut seine Sorgen zu kommunizieren, ja darum geht es in diesem Beitrag.
Viel Spaß beim lesen.
Online Selbsthilfegruppe – was ist das?
Ein geschlossener oder öffentlicher Zusammenschluss von am gleichem Thema interessierten Menschen mit Zuhilfenahme der sozialen Netzwerke – im Fall der Selbsthilfe meist aus der Not heraus gegründet um möglichst schnell einen Austausch über eben genau das gemeinsame Thema mit anderen zu bekommen.
Bei krankheitsspezifischen Gruppen werden diese meist von selbst Erkrankten oder hilfesuchenden Angehörigen ins Leben gerufen.
Hier findet sozusagen der Basis-Austausch statt.
Ich selbst bin mittlerweile in diversen Onlinegruppen Mitglied und in einigen sogar recht aktiv. Für die Selbsthilfe Gruppe »Immundefekt – DU AUCH !?« haben wir Alltagsmacher zusammen mit der Gruppengründerin Andrea sogar ein eigenes Logo entworfen.
Durch so ein gemeinsames Zeichen stärkt man einfach das Gruppengefühl und genau dieses ist essenziell wichtig, wenn viele Menschen aufeinander treffen – auch und gerade ganz besonders online. Zudem kann dieses Symbol auch als Erkennungszeichen bei Patiententreffen im so genannten »real life« dienen.
Was für Menschen tummeln sich da?
Die Elitären, die Kuschler, die Missionare, Produktverkäufer, Engagierte, Vereinsvertreter, die Erfahrenen, die Neuen, die Helfenden, die Wütenden, die Gefrusteten uvm.
Wenn ein Patient nicht mehr weiter weiß und total verzweifelt nach Hilfe sucht; Wenn ein Angehöriger Angst hat jemand Betroffenen zu verlieren und einen letzten Strohhalm sucht; Wenn Nach jahrelangem Suchen nach einer Diagnose kein Rat mehr weiter führt; Immer dann wenn ein Betroffener oder Angehöriger mit den Nerven am Ende ist und jemanden zum reden braucht, der auch einfach mal zuhört und immer, wenn man einfach nur nach Verständnis sucht oder endlich nicht mehr allein sein will – immer dann hat eine Gruppe ein neues Mitglied. Wenn Ärzte nicht mehr weiter wissen und das soziale Umfeld zerbricht, wenn Job und Liebe unter der Erkrankung leiden. Wenn die Existenzangst einen zu ersticken droht, ja dann gehen die Anfragen auf Mitgliedschaft ein. Es sind Menschen die dort nach Antworten auf Fragen suchen die das ganze Leben betreffen.
Jede dieser Online-Gruppen hat im Idealfall einen sogenannten Admin – also einen Administrator der die Gruppe meist auch gegründet hat – der die Privatsphäre Einstellungen festlegt und die Gruppenregeln bestimmt.
Manche Gruppen haben auch mehrere Admins. Dadurch kann schneller eingegriffen werden bei Konflikten oder wenn es um den Ausschluss von Mitgliedern geht. Ein Admin kann auch jederzeit Inhalte entfernen und falls nötig Personen für die Gruppe blockieren – es gibt dann also ein Eintrittsverbot. Genauso gibt es auch Admins meist Angehörige die dann (sofern Technikaffinität vorhanden) beim Einpflegen der Inhalte helfen oder Gruppenbildanpassungen übernehmen.
Es gibt viel Wissen, viel Gefühl und viel praktische Hilfe innerhalb Gruppen. Sehr erfahrene Langzeitpatienten teilen ihre Erlebnisse und geben Tipps und Empfehlungen zu Ärzten und Behandlern, Hintergrundwissen zu Medikamenten und Antragsverfahren. Irgendeiner hat normalerweise immer einen Rat. Oft fungiert man für andere auch einfach mal als Ventil und digitale Trostschulter.
Für viele ist der Austausch übers Internet auch einfach besser handlebar. Wenn Krankheit und Entfernung sonst einen Strich durch die Erfahrungsaustauschrechnung machen, so bringt das Netz Menschen zusammen die sonst schlichtweg alleine dastehen würden. Nicht jeder hat die Zeit und die Kraft und das Geld sich mit anderen zu treffen. Gerade im Bereich der seltenen Erkrankungen gibt es ja oft nicht mal die Möglichkeit auf ein Treffen mit anderen Betroffenen.
Ob stille Mitleser oder Mitglieder die immer einen Ratschlag parat haben, man ist einfach weniger allein auf dieser ungerechten Welt. Doch es gibt auch nicht so schöne Dinge und darauf gehe ich jetzt ein.
Jede Gruppe hat schwarze Scharfe
Produktverkäufertrolle die sich oft als selbst Betroffene tarnen und dann vermeintliche Wundermittellchen anpreisen. Eine Kapsel am Tag hier von, eine Tasse davon und dann am besten mit Pulver X bestreuen, die Nase gegen Osten ausrichten und im Kreis tanzend singen »jede Zelle meines Körpers ist glücklich« während der Bestellkatalog schon in die Webcam gehalten wird und immer wieder betont werden muss, dass dieses Produkt dem verkaufenden Wesen lebensverändert geholfen hat.
Damit ist auch dein Darmkrebs, deine MS und deine Lungenfibrose geheilt und Erbrankheiten heilt es natürlich auch – da sind wirklich Admins gefragt, die schnell und reflektiert reagieren. Denn diese Art von Mitgliedern sind schlichtweg gefährlich. Da viele Hilfesuchende nach dem letzten Strohhalm greifen kann man damit viel Leid anrichten und Patienten in lebensbedrohliche Situationen bringen.
Elitäre Krankheitsnazis
Igitt, was für eine Beschreibung und doch gibt es eben erwähnte Spezifikation von Usern. Diese Gattung der königlichen lassen partout keine anderen Meinung zu und verbeißen sich gerne auch in gefährliches Halbwissen mit der Begründung, sie seien von Anfang an dabei. Nun wollen diese Behinderungskonservativen nicht verstehen, dass Medizin und Präparate weiterentwickelt wurden. Studien gelten nur von solchen Ärzten als glaubwürdig und relevant, die noch in die Kategorie Nachkriegskind fallen. Neues wird strikt abgelehnt und Menschen die es besser wissen dürfen direkt gehen. Ja, leider ist es bittere Realität und, wie ich vermute, einfach Verbitterung oder Machthunger durch lebenslange Kontrolllosigkeit die eigene Erkrankung betreffend. Das Gefühl von kranksein = Unterschicht.
Unter jenen gibt es noch Patienten, die glauben Ärzte sind Halbgötter in weiß und sehen dem Begriff der »mündige Patient« mit großem Schrecken entgegen. Andere wiederum stellen sich über jegliches medizinisches Grundwissen. In beiden Fällen verlor man die Fähigkeit zu reflektieren und zu differenzieren – das kann sehr unangenehm werden.
Institutionsvertreter und Lobbyisten
Zu fast jeder Online-Selbsthilfegruppe mit Krankheitsbezug gibt es auch einen oder mehrere Vereine in Deutschland, Europa oder der Welt sowie Interessensvertreter aus unterschiedlichen Bereichen. Ob es sich um Kontrolle potenzieller zahlender Mitglieder handelt oder um Menschen die helfen wollen ist jedoch meist sehr leicht zu erkennen.
Wenn Vereinsvertreter – ich sage bewusst Vertreter, weil Vereinsmitglieder sind ja erst mal meist auch einfach nur Patienten die dankbar für jede Hilfe sind. – also wenn diese Vereinsvertreter nun immer nur auf den Verein hinweisen oder Interessensvertreter nur auf eine bestimmte Informationsquelle, wenn aus bestimmten Lagern immer der gleiche Tipp kommt, egal worum es geht, und wenn immer der selbe Behandler fokussiert wird, dann könnt ihr davon ausgehen, dass dort nicht die Hilfe im Vordergrund steht, sondern Absprachen die dann eben auf diese Art kommuniziert werden.
Jemand der wirklich helfen möchte stellt auch sein vorhandenes Wissen zur Verfügung ohne diese Hilfe von einer Gegenleistung abhängig zu machen. Wer aktiv hilft darf natürlich auch für sich werben um die eigenen Hilfsangebote zu professionalisieren. Meiner Meinung nach könnten sich Vereine gut in solch ein kostenloses Angebot mit einbringen, PDF-Dateinen zu Verfügung stellen und sich auch die Zeit nehmen Fragen zu beantworten. Das man durch schnelle und kostenfreie Hilfe ganz von selbst neue Mitglieder generiert ist leider noch nicht bei allen angekommen.
Jetzt keine Angst, es muss zwar von allen Seiten beleuchtet werden doch sind eben beschriebene negative Erscheinung eher die Seltenheit.
Wie eine Onlineselbsthilfegruppe mein Leben bereichert
Da entstehen echte Freundschaften und so manche Patienten treffen sich auch in echt bzw. offline. Man besucht sich gegenseitig im Krankenhaus oder ein Rehaaufenthalt wird schnell mal genutzt um Menschen zu sehen, die jetzt in greifbarer Nähe sind. Es gibt stundenlange Telefonate und Chatverläufe, deren Länge nicht mehr messbar sind.
Manchmal werden auch kleine Hilfspakete geschnürt – mit Medikamenten und kleinen Freuden. Ja, diese Gruppen können eine echte Veränderung im Leben bewirken.
Ich selbst habe ganz tolle Menschen bei »Immundefekt – DU Auch !?« gefunden – Freunde fürs Leben. Nie erfuhr ich mehr Verständnis und nützliche Tipps wie als Mitglied dieser Gruppe. Auch ich besuche andere Patienten und quatsche lange mit ihnen. Sie wachsen einem ans Herz und werden Teil des eigenen Lebens. Sie können dich aus dem tiefsten Loch holen und dir mit dem richtig Tipp sogar Schmerzen nehmen und Leiden mildern.
Momentan geht es mir selbst so gar nicht gut und um euch Lesern und Leserinnen zu zeigen was ich meine, gibt es hier ein Beispiel.
Nachricht von mir in meine Lieblingsgruppe
Mein Weihnachtswunder
»Also das Biobran ist da und jetzt muss ich einfach noch was sagen: Vor drei Tagen kam ein absolut aufbauender und lieber Brief von Birgit und Lisa Kathrina an und ich habe mich riesig gefreut. Nachdem Katja dann gestern meinen ganzen Frust über Sprachnachrichten ertragen hat und mir so die Chance gab, mal Dampf raus zu lassen, erhielt ich heut das Paket von einer wirklich sehr sehr liebevollen Cathy Sund ihrem Sohn mit dem Biobran und vielen anderen Hoffnungsträgern darin.
Ich hätte mir das Biobran momentan nicht mal eben so leisten können und Cathy hatte ohne zu zögern einfach mit meinem Mann geschrieben und mir ihren Bestand geschickt.
All die lieben Mails und aufbauenden Worte von ausgerechnet den Menschen, die es selbst absolut nicht leicht haben sind mein ganz persönliches Weihnachtswunder. Andrea und Sabine, die immer wieder ein offenes Ohr haben – trotz der eigenen bescheidenen Lage. Petra, die gerade selbst so viel Kraft aufbringen muss. Sarah und Radka, die mir pures Verständnis entgegen bringen. Ich habe so viele Namen im Herzen und Worte auf der Zunge, die ich alle gar nicht zum Ausdruck bringen kann. Ein jeder der meinen Hilferuf kommentiert hat: Ihr habt etwas gut bei mir.
»Liebe Immundefekt – Du Auch ?!«-Gruppe: Ihr seid die besten Menschen die die Welt – und vor allem meine Welt – hat. Ohne Euch ginge es nicht, ohne Euch würde ich nicht der sein, der ich bin. Vergesst nie wie wertvoll ihr für so manch einen verzweifelten Menschen seid.
Fühlt euch alle ganz doll gedrückt mit all meiner Kraft. Gebt nicht auf sondern kämpft immer weiter und vergesst niemals: Ihr seid nicht allein! Wir alle haben uns und darauf können wir verdammt stolz sein!«
Ich brauche diese Gruppe einfach und ich versuche im Gegenzug einfach viel zurück zu geben. Es ist schon ein sehr schönes Gefühl ein Teil davon zu sein. Egal wie weit am Boden ich liege und verzweifelt ich bin, in dieser Gruppe wird mir immer geholfen.
Geben und Nehmen – Die Gruppenregeln
Zu guter Letzt versuche ich mich noch an der Erstellung der »ultimativen« Verhaltensregeln für solch eine Gruppe. Auch wenn einige Punkte logisch sein sollten macht es Sinn diese zur Unterstreichung zu verschriftlichen.
- Was in die Gruppe geschrieben wird verlässt die Gruppe nicht, wenn man dadurch Persönlichkeitsrechte verletzt werden würden.
- Jeder sollte sich kurz vorstellen und zumindest mitteilen wenn man nur still mitlesen möchte.
- Beleidigungen, Gewaltandrohung, Fremdenfeindlichkeit, Sexismus, Homophobie, generell Diskriminierung und extremistisches Gedankengut sind ein absolutes Tabu.
- Es herrscht Meinungsfreiheit. Auf gegebenenfalls falsche Fakten und Behauptungen sollte mit belegbaren Tatsachen auf eine freundliche Weise reagiert werden.
- Jeder wird mit seinen ganz persönlichen Ängsten und Sorgen ernst genommen und es gibt keine dummen Fragen.
Wenn sich alle an diese Grundsätze halten wird es normalerweise keine größeren Konflikte geben. Natürlich kann auch ordentlich diskutiert und debattiert werden, allerdings immer auf gesellschaftsfähige Art und Weise. Da jeder schon mal die Fassung verlieren kann bin ich vor dem direkten Ausschluss eher für ein Drei-Chancen-System: Nach dem dritten Verstoß gegen die Regeln wird die betreffende Person blockiert (außer natürlich bei wirklich groben Schnitzern, denn es gibt Dinge, die gehen einfach nicht).
So, jetzt habe ich hoffentlich ein gutes Gesamtbild zum Thema Online-Selbsthilfegruppen geben können. Es hat alles immer mehrere Seiten und es gibt – wie mit allem auf der Welt – gute und schlechte Vertreter einer Sache. Mir ist es wichtig solche Gruppen zu haben. Ich ziehe mir heraus was ich brauche und bringe ein was ich kann.
Wie sehen eure Erfahrungen da aus? Positiv wie negativ – schreibt es in die Kommentare.
Euer Stephan